Ann Louise Preuß
freischaffende Autorin


Drei Kurzgeschichten zur Auswahl und zum Kennenlernen des literarischen Stils 


Alles umsonst

Wir saßen zusammen in der Gaststätte Zum Schwarzen Stein und ließen es uns gutgehen.
Es war wieder soweit. Freitagabend.
Der feste Kreis aus Junggesellen war zusammengekommen. Hannes von der Spedition, Gero Singscheidt, der Künstler Edwin, Roberto, der Eisdielenbesitzer, Schaschlik (sein richtiger Name war Jost Schlick) und ich.
In der Mitte des Tisches stand der Ständer mit dem Wimpel. Er zeigte das Emblem der Gaststätte, einen schwarzen Stein, länglich geformt und porös, so wie Meteoritengestein eben aussieht, wenn ein Brocken in die Erdumlaufbahn eintritt und in sich zu einem Klumpen verglüht.
Der Klumpen passte zu uns Männern. Wir waren der legendäre Junggesellenstammtisch, fest verschweißt zu einem Kreis echter Kerle, Gleichgesinnter.  
Aber zum ersten Mal seit Bestehen war der Kreis geschrumpft.
Gotthard war verstorben, vorgestern.
„Ich kann es noch nicht fassen.“ Roberto fingerte an seinem Handy herum. „Weiß jemand mehr oder was Genaues?“    
„Nee, nich wirklich! Aber es soll wahr sein.“ Hannes hatte Kontakt zu Gotthards Schwester. Deshalb konnte er durchaus mehr wissen. Hannes kam rum.
„Bei mir hat er kurz vorher noch reingeschaut, sogar die dreißig Euro noch abgedrückt für den Stammtisch-Ausflug. Keine Ahnung, wieso. Macht alles keinen Sinn!“  Roberto tippte weiter auf seinem Handy. „Ich hab ihn sowieso nie für voll genommen, aber ist ja jetzt so was von egal.“
Edwin wollte sagen, dass er Gotthard auch getroffen hatte, bei sich im Atelier, dass Gotthard vorbeigekommen war aus irgendeinem Grund, aber aus welchem, wusste er nicht. Er schwieg jedoch.
„Leute, Gotthard hat sein Ding durchgezogen, einfach so, ohne alles, ich meine, ohne Rücksicht auf irgendwas. Er war frei, verstehst du, Roberto? Der hat nicht den ganzen Tag im Laden Wellen geschlagen wie du in deiner Eisdiele. Der hat sich in der Welt bewegt.“
Die lange Erklärung war typisch für Jost.
Bei Trost, nur Jost!
Mit dem Spruch konnten wir ihn auf die Palme bringen. Da war er richtig empfindlich. Aber so war er. Für das meiste hatte er eben eine Erklärung, aber nie eine, die passte oder die man hören wollte.
„Lass mal, Schaschlik, wenn deine Mutter dich in der Wanne findet …“  
„Schluss jetzt! Alle!“ Geros Worte sausten nieder wie ein Fallbeil. „Ich bin nicht gekommen, weil ich rumsülzen wollte, Pech und so! Lass einfach stecken! Ich hab da keine Lust drauf. Nich heute. Nich, wenn wir Jungs Stammtisch machen.“  
Gero hatte es in barschem Ton gesagt. Sofort gefror jede Bewegung am Tisch. Niemand wagte, das Thema Gotthard weiter zu vertiefen. „Und falls jemand Fragen hat, soviel dazu: Ja, Gotthard war vorgestern auch bei mir, kurz, und war wieder weg. Was er wollte, weiß ich nicht. Macht ja jetzt nichts mehr. Gibt ja kein Nachspiel.“
Noch immer sagte niemand etwas. Betretenheit hielt sich in der Runde, abgesehen von Gero.
„Ich schmeiß ne Runde, Jungs!“
Er hob den Arm zum Zeichen für Köppen, unseren Wirt.
„He, du, Köppen, mach uns Jungs mal sieben Bier und sieben Kurze.“
Aus dem hinteren Teil der Gaststätte wurde die Bestellung wiederholt.
„Wird gemacht. Sieben Bier und sieben Kurze, wie immer. Kommt sofort.“
Ich hatte nicht das Gefühl, dass Gotthard in der Runde fehlte, auch wenn sein Platz leer war. Und das Bier und den Kurzen hat später jemand anders getrunken.
Da war beides genauso weg, als wenn Gotthard dagewesen wäre.

Im wahrsten Sinne des Wortes

Wir hatten uns lange nicht gesehen, sehr lange nicht, aber wiedergefunden, wohl durch einen Zufall, wie das Leben nun mal Zufälle bereithält. Dabei war der Ort unserer Begegnung eigentlich das Vorhersagbarste gewesen, das überhaupt möglich war, wenn man unsere Vorlieben kannte, Bücher.
Wir waren uns im größten Buchladen von Berlin begegnet, als wir an einem grauen Nachmittag wohl beide auf der Suche nach neuem Lesestoff waren. In der Abteilung der klassischen Literatur waren wir aufeinander gestoßen. Dort, zwischen zwei Regalen hatte unser Wiedersehen stattgefunden, als es gegen Abend leerer geworden war und außer uns niemand mehr da war, der die Sicht auf den anderen versperren konnte. Plötzlich hatten wir uns gegenüber gestanden.
„Bist du das, Ben?“, hatte ich mit Beklommenheit in der Stimme gefragt.  Und sofort ein Lächeln geerntet. „Ja!? Warum? … Ach, nein!“ Auf die faltige Stirn traten zusätzliche Linien des Erstaunens.
„Olga? Du?“
„Ja, ich bin’s.“
Ich hatte sofort ein Zittern in der Stimme, eine Unsicherheit, die ich gern abgelegt hätte, aber ich konnte nicht. Ich war zu bewegt nach dreißig Jahren. Warum jetzt? Warum traf man sich ausgerechnet jetzt? War uns die unerwartete Begegnung vorbestimmt, und es hatte Vorzeichen dafür gegeben? Wenn es sie gegeben hatte, dann hatte ich die Zeichen in jedem Fall übersehen. Sein Anblick jedenfalls traf mich wie etwas, dem ich gern ausgewichen wäre.
„Bist du öfter hier?“, wollte er als Erstes von mir wissen.
Ich fand, für ein Wiedersehen nach so langer Zeit war das eine schlechte Frage. In gewisser Weise war die Frage oberflächlich und ging am Kern vorbei, wenn ich mich als den Kern nahm und wenn ich es streng nahm mit ihm. Aber ich nahm es nicht streng. Nicht mit Ben. Genau wie damals schon wollte ich es nicht streng mit ihm nehmen.
Gut sah er aus, wenn auch ein bisschen müde um die Augen. Aber sein Blick war klar und aufmerksam und mündete direkt in meine Augen. Es war genau dieser Blick, der mir keine Wahl ließ.
„Ich bin selten hier“, gab ich zur Antwort, „sehr selten. Eigentlich nie.“ Aber das hatte ich gar nicht hervorbringen wollen. Mir war viel wichtiger, ihn etwas zu fragen.
„Wie geht es dir?“, sagte ich.
Meine Frage machte bei ihm unruhige Beine, auch unruhige Hände. Er griff sich an die Nase, dann ans rechte Ohr. Erst danach kam die Antwort, mit ruhiger, tiefer Stimme, genau wie damals, als wir zusammen gewesen waren. Schon damals hatte mich diese Stimme hypnotisiert.
„Es geht mir gut“, gab er zur Antwort, „ich arbeite viel, nur heute Nachmittag nicht. Ich habe mir freigenommen, musste sein.“ Auf seinen ernsten Gesichtsausdruck folgte ein mildes Lächeln, als er fragte:
„Trinken wir einen Kaffee zusammen? Hast du Zeit?“
„Ja, klar habe ich Zeit!“, sagte ich und schob eilig hinterher, „sehr gern!“
Wie hätte ich neinsagen können, wenn zwei Menschen, die einmal das Leben miteinander teilen wollten, sich nach drei Jahrzehnten durch einen Zufall wiederfanden? Hatte man da die Chance einen Kaffee auszuschlagen? Auf der ganzen weiten Welt gab es nichts, was ich in diesem Augenblick lieber getan hätte als mit diesem Mann einen Kaffee zu trinken.
„Lass uns nach unten gehen“, sagte er, „ins Besucherrestaurant. Okay?“
Er hatte „okay“ gesagt, obwohl er doch eigentlich Amerikanismen immer gehasst hatte, jedenfalls früher, als wir noch im Studium gewesen waren.
Also hatte sich nicht nur sein Aussehen verändert, auch seine Sprache, sagte ich mir, zumindest was seine Einstellung zu Amerikanismen betraf.
„Ja, okay“, sagte ich, „eine gute Idee. Lass uns nach unten gehen.“ Zwar kannte ich das Besuchercafé schon und hatte es als Enttäuschung erlebt, was Angebot und Service betraf, aber welche Rolle spielte das, wenn Ben dabei war? Keine!
Wir nahmen die Rolltreppe, und ich legte während der Abwärtsfahrt meine feuchte Hand auf den Handlauf. Ich war  unsicher, was er mir mitteilen würde über sein Leben, Gutes oder Schlechtes? Hoffentlich nur Gutes, sagte ich mir.
Ganz am Rande der Sitzfläche war ein Tisch frei, abseits vom Trubel und abgeschirmt durch eine große Grünpflanze, die in ein Wachstumssubstrat aus Lavasteinen gepflanzt war. Er zeigte darauf.
„Schau mal“, er lachte, „die Pflanze könnte deine Hilfe gebrauchen, sieht nicht gut aus, nicht gesund. Da hatten es die Topfpflanzen früher bei dir besser, nicht wahr!“                  
Er hatte wieder dieses Nicht-wahr angehängt, genau wie damals schon. Darüber hatte ich mich damals schon während unseres Zusammenseins aufgeregt, weil es mitunter gefühlt bei jedem seiner Sätze angehängt war, so als würde jede Aussage noch eine zusätzliche Bestätigung brauchen, eine weitere  Bekräftigung, dass es die Wahrheit war, die man in seinen Sätzen anstrebte. Es ging doch zwischen Liebenden ganz und gar ohne dieses Anhängsel. Ich hatte ihm damals erklärt, dass man doch als Paar sowieso ehrlich zueinander sein würde. Da brauchte man kein doppeltes Versichern durch ein nachgeschobenes Nicht-wahr, da genügte die einfache Wahrheit, die doch immer zwischen Liebenden in jedem ihrer Sätze eine Selbstverständlichkeit sein sollte, eine stillschweigende Voraussetzung ihrer Beziehung.
„Was trinkst du? Einen Kaffee oder lieber einen Kakao wie in alten Zeiten?“ Dass er sich daran so gut erinnerte, tat mir gut.
„Einen Kaffee“, sagte ich, „aber mit viel Zucker!“
Schon bei der Frage war er aufgestanden und machte sich auf den Weg zur Theke.
Ich sah ihm nach. Früher war er mir größer vorgekommen. Auch breiter in den Schultern.
Ich beobachtete ihn, während er kurz in der Schlange stand, dann bestellte, seine Geldbörse öffnete,  suchte und bezahlte. Auch nach so vielen Jahren sah er immer noch gut aus, ohne Frage attraktiv, ein besonderer Mann mit einer besonderen Ausstrahlung, nicht nur in der Stimme.  
Noch immer begriff ich nicht, was uns gerade heute zusammengeführt hatte. Eine Wendung des Schicksals? Ein erleuchtender Lichtstreif, den ich am grauen Himmel übersehen hatte? Ich hatte tatsächlich auf wundersame Weise Ben getroffen, nach so vielen Jahren der Ungewissheit, wo er lebte und was aus ihm geworden war. Fast war ich ihm zwischen zwei Bücherregalen in die Arme gelaufen.
Auf dem Rückweg zum Tisch fiel ihm wieder etwas ein und er machte eine Kehrtwende. Es war wohl der Zucker, den er vergessen hatte. Typisch. Er hatte auch früher öfter etwas vergessen. Einmal sogar meinen Geburtstag, aber an den Zucker hatte er jetzt gedacht. Da hatte er offensichtlich an sich gearbeitet.
Als er sich gesetzt hatte, sagte er: „Erzähl von dir! Was hast du in den zwanzig Jahren gemacht? Es ist ja schon viel Zeit vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
„Zwanzig?“ Ich war überrascht. Wie ungenau er mit unserem Leben umging. Es waren in jedem Fall dreißig Jahre. Da war ich mir ganz sicher! Dass er sich mit der verstrichenen Zeit so irren konnte! Ich konnte es nicht begreifen.
„Wie kommst du bei deiner Rechnung auf zwanzig?“
Ich war so unangenehm berührt, dass der Ton, in dem ich zurückfragte, es vielleicht erkennen ließ.
„Dann“, sagte ich, „will ich jetzt aber wissen, was du in den letzten zwanzig Jahren gemacht hast. Warst du die ganze Zeit hier in Berlin? Oder warst du doch woanders? Im Ausland? Prag? Graz? Oder hast du beruflich sogar den Sprung nach Amerika geschafft und Karriere gemacht?“
Ich nannte bewusst Städte, von denen ich wusste, dass er sie gemocht hatte, vor allem Graz. Aber das mit Amerika hatte ich mir ausgedacht und testete ihn damit an. Ich wusste noch, dass er früher kein Freund gewesen war, weder von Amerika noch von amerikanischer Kultur.
„Ja, stimmt, ich war etliche Jahre fort, aber nicht in Amerika, ziemlich genau seit dem Tod meiner Eltern war ich aus Berlin weg, längere Zeit, und hab' an verschiedenen Orten gewohnt.“
„Deine Eltern sind tot? Beide?“ Ich war betroffen. „Das tut mir leid!“
„Ja, zuletzt starb meine Mutter, viel zu früh, ich war damals Mitte dreißig und sie erst Mitte sechzig. Ihr Tod hat eine schreckliche Lücke hinterlassen. Ich habe lange gebraucht, um mich davon zu erholen.“
Sein Schmerz war nicht zu übersehen. Ich sah, dass er auch jetzt noch, nach so vielen Jahren, litt und den Tod seiner Mutter nicht völlig überwunden hatte. Er tat mir von Herzen leid. Aber dennoch rechnete ich nach und suchte nach einer Unstimmigkeit.
„Dann ist deine Mutter also vor zwanzig Jahren gestorben?“, fragte ich.
„Ja!“
„Und dein Vater?“
„Fast zehn Jahre vorher.“
Jetzt hatte ich den sicheren Beweis, dass meine Zeitrechnung richtig war und nicht seine, denn den Tod seines Vaters hatte ich auch schon nicht mehr miterlebt. Selbst dieses Ereignis lag schon einige Zeit nach unserer Trennung.
„Aber dann“, sagte ich, „habe ich Recht mit meinen dreißig Jahren. Es sind drei Jahrzehnte vergangen, seitdem wir uns das letzte Mal gesehen haben.“
Wieder legte er die Stirn in Falten. Dann dauerte es einige Zeit, bis er schließlich meinte:
„Stimmt! Natürlich, du hast Recht. Bei Zahlen bist du immer noch besser als ich. Alles genau wie damals.“ Er lachte wieder.
Ich rührte in meinem Kaffee und fragte mich, warum er diese Ewigkeit unserer Trennung um ganze zehn Jahre verkürzt hatte.
War ich ihm so unwichtig? Er hatte mich wohl gar nicht vermisst, nur am Anfang vielleicht, als er bald nach unserer Trennung auf die Suche nach mir gegangen war.
Ich weiß noch, wie er einmal mit seinem Auto vor unserem Haus geparkt hatte und gewartet, stundenlang. Er hatte nicht zu den Fenstern hochgeschaut, sondern nur geradeaus, sonst hätte er gesehen, dass mein Mann zu Hause gewesen war, nur an diesem einen Tag, eine Ausnahme mitten in der Woche, und Ben hatte sich exakt diesen Tag ausgesucht, um vor unserem Haus im Auto zu sitzen und zu warten. Ein schlechter Zufall. Aber das Leben bestand doch immer nur aus Zufällen, guten wie schlechten. Wäre ich allein zu Hause gewesen, ich wäre runter gegangen zu ihm, hätte mit ihm gesprochen und ihn sicherlich ins Haus gebeten. Ganz bestimmt hätte ich das getan!
„Und was machst du jetzt hier?“ Mir war bang bei der Frage. „Wohnst du wieder hier in Berlin? Oder bist du nur zufällig hier?“
„Zufällig?“, fragte er zurück und schüttelte sofort den Kopf. „Nein, überhaupt nicht zufällig. Ich arbeite und wohne jetzt hier. Ganz in der Nähe übrigens. Ziemlich da, wo ich schon früher gewohnt habe. Und du? Was machst du?“
Er stellte mir diese Frage und wusste doch mehr von meinem Leben als ich von seinem.
„Weißt du schon, dass ich Kinder habe?“, sagte ich und war auf seine Reaktion gespannt, „zwei, einen Sohn  und eine Tochter. Sind aber schon aus dem Haus.“
„Nein! Donnerwetter! Das freut mich. Wolltest du doch auch immer, nicht wahr.“
Da war es wieder dieses Nicht-wahr. Wir waren erst seit wenigen Minuten zusammen, und schon hatte er zum zweiten Mal „nicht wahr“ angehängt. Warum war er nicht geradeheraus? Warum gab er nicht zu, dass er öfter als das eine Mal vor unserem Haus gestanden hatte, dreimal, viermal vielleicht, dass er spielende Kinder gesehen hatte? Ich ärgerte mich über seine Unaufrichtigkeit und stellte nun aus Ärger die Frage, zu der mir schon die ganze Zeit der Mut gefehlt hatte.
„Bist du verheiratet?“
Nun war ich gespannt, was er sagen würde. Mit Ende fünfzig war normalerweise jeder endlich verheiratet oder schon wieder geschieden. Aber hier ging es um Ben, und Ben war nicht jeder.
Mit einem Lachen wischte er die Frage gekonnt vom Tisch, als würde er einen lästigen Krümmel mit nachlässiger Handbewegung vom Tisch fegen, antwortete darauf nicht, sondern stellte selbst eine Frage.
„Reicht es nicht, dass du verheiratet bist?“
Er konterte mit einer Gegenfrage und ich wusste nicht, was ich davon halten sollte und war einigermaßen verwirrt. Sollte ich verstehen, dass Heiraten unmodern war und dass es Besseres gab als eine Heirat, zum Beispiel Liebschaften, wilde Ehen, Beziehungen am Wochenende? Oder fragte er nach, weil er etwas andeuten wollte, ganz vorsichtig und zart, ohne sich gleich preiszugeben, ohne sich eine Blöße zu erlauben?
„Du hast also nicht geheiratet?“ Ich war darüber bestürzt, aber gleichzeitig auch erleichtert. Irgendwie war eine Frau an seiner Seite für mich immer noch schwer zu ertragen.
„Nein! Hab ich nicht. Es hat sich in meinem Leben einfach nicht ergeben, aber ich hatte längere Beziehungen.“ Er schaute auf seine Knie, und ich folgte seinem Blick. Seine Hose sah ungepflegt aus, hatte Flecken am linken Bein.
„Und jetzt? Bist du jetzt auch in einer längeren Beziehung?“ Ich musste ihn das fragen. Testweise. Dabei knirschte das Wort Beziehung fast zwischen meinen Zähnen, aber ich verzieh mir meine Durchsichtigkeit in diesem Moment, schließlich war ich erst seit einer Woche von Jonas geschieden. Und was war schon eine einzige Woche als Heilzeit für Wunden, die aus einer Beziehung stammten und mitunter Jahre brauchten, um sich zu schließen.
„Ja, bin ich“, kam seine Antwort quer über den Tisch,  „wenn ich auch nicht geheiratet habe. Ich war aber immer in guten Beziehungen, auch jetzt.“ Er fasste sich an die Nase. „Schon seit längerer Zeit.“
Ich führte zweimal die Tasse zum Mund, während ich über alles, was er gesagt hatte, nachdachte. Schließlich fasste ich mir ein Herz und sagte: „Unsere Beziehung damals war  auch gut!“
Dann sprachen wir noch eine Weile über Vergangenes, über dies und das, was uns eben so einfiel, bis ich auf meine Uhr blickte und ein Ende fand. Langsam richtete ich mich auf.
„Es war ein schönes Gespräch, Ben, auch ein langes“, sagte ich, „aber ich muss jetzt los, sonst gibt es Ärger zu Hause. Es ist spät geworden, nicht wahr.“

Bonbons

Das dunkelgrüne Rollo war heruntergezogen und der junge Vater schlief im Ehebett. Draußen schien in letzten Zügen die Sonne. Aber im Schlafzimmer war es nahezu stockfinster. Das warme Licht der Abendsonne wurde durch das dunkle Rollo bestens abgeschirmt.
Sah man die Hand vor Augen?
Nein, man sah sie nicht.
Das neunjährige Mädchen hatte es ausprobiert, mehrmals, und wälzte sich gelangweilt in ihrem Bett. Es war überhaupt nicht müde und sollte schlafen. Mama hatte darauf bestanden.
„Papa, du und das Trudchen, ihr geht alle drei um sieben schlafen, damit wir morgen alle gut ausgeschlafen sind, wenn wir früh um vier in den Urlaub fahren. Ich will dann kein Geknatsche haben und auch keine müden Kindergesichter.“
Kindergesichter! Mama hatte Kindergesichter gesagt und keinen Unterschied im Alter gemacht. Egal, ob man erst vier war wie das blöde Trudchen oder neun und in die dritte Klasse ging.
Das war gemein!
Und jetzt schlief das Trudchen schon und Pia war immer noch wach und quälte sich, um in den Schlaf zu kommen.
Und Papa schnarchte im Ehebett, während Mama noch in der Küche verschiedene Dinge zusammenpackte.
Bei geschlossenem Fenster war es heiß im Zimmer.
Pia schmiss genervt die Bettdecke zur Seite. Es gab ein Knistern.
Warum?
Pia streckte das Bein aus dem Bett, um mit dem Fuß zu tasten. Wieder gab es ein Knistern.
Da war etwas!
Es befand sich vor Pias Bett, und wenn man es berührte, dann knisterte es. Aber was es war, ließ sich im Stockfinstern nicht ausmachen. Bestenfalls ließ es sich ertasten.
Noch einmal streckte Pia den Fuß in Richtung des Knisterteils. Und nicht nur das. Sie bohrte sich mit dem Fuß regelrecht in das Knistrige hinein, um zu erfühlen, was da vor ihrem Bett lag.
Auf jeden Fall war da etwas, abgelegt auf dem Koffer.
Vielleicht eine knisternde Verpackung. Eine Tüte für die Reise morgen, mit einem unbekannten Inhalt.
„Was ist das?“
Aus Richtung des Ehebetts stellte das Trudchen die Frage an Pia. Sie war aufgewacht.
Pia stieß sofort noch einmal gegen das Knistrige. Wieder fragte die Kleine. „Was ist das, Pia?“
Das blöde Trudchen war aber auch zu neugierig.
„Was ist das? Was hast du da, Pia?“
Ach, das blöde Trudchen nahm an, dass sie da tatsächlich etwas hatte! Und klar: Sie hatte auch etwas. Nur was? Was hatte sie denn eigentlich? „Bonbons, Trudchen! Ich habe Bonbons!“
Die hätte Pia am liebsten zur Verfügung gehabt. Eine ganze Tüte voll. Und keines an das Trudchen abgegeben.
Jetzt richtete sich die Kleine in ihrem Gitterbett auf.
„Pia, krieg ich eins?“
Natürlich kriegte das blöde Trudchen keins. Auch kein halbes. Gar keins.
Pia knisterte noch einmal mit dem Fuß an der gedachten Bonbontüte. Und die Vierjährige fing an zu jammern.
„Gib mir eins, Pia! Ich will auch eins, Pia!“
„Nein, du kriegst keins!“
Pia stieß mehrmals hintereinander mit dem Fuß auf das Knistrige, während sie in Abständen wiederholte:
„Du nicht! ... Du kriegst keins ... “, und die Kleine fing nun endgültig an zu weinen. Sie schluchzte, sie jammerte nach den Bonbons, und Pia wiederholte:
„Nein, du nicht, du kriegst keins! Das sind meine!“
Und schon hielt das kleine Trudchen sich rappelnd an den Gitterstäben ihres Bettchens fest. Es war zu traurig und auch ein bisschen empört über die große Schwester. Es rappelte heftig an den Gitterstäben und bettelte Pia energisch an, dass es fast schon laut schrie:
„Bonbon! Bonbon! Ich will auch eins!“
Da schnellte der Vater wie vom Blitz getroffen aus dem Bett hoch. Mit einem Bild im Kopf war er mit wenigen Schritten durch den Raum und trotz Dunkelheit genau vor Pias Bett. Dort angekommen, brüllte er los.
„Was ist das hier eigentlich? Hatte ich nicht gesagt, es wird früh geschlafen?“ In seiner Wut griff der Vater nach Pia und hielt sie an beiden Oberarmen fest, dass es ihr wehtat.
„Und was soll der Krach?“, schrie er. „Was ärgerst du das Trudchen die ganze Zeit, dass die Kleine geweckt wird und wegen dir nicht schlafen kann!“
In seiner grenzenlosen Wut gab der junge Vater Pia rechts und links eine klatschende Ohrfeige, dass die Neunjährige vor Schmerz auf der Stelle losweinte.
Bei all dem Geschrei und Gejammer im Schlafzimmer kam jetzt die Mutter angelaufen, riss die Tür zum Schlafzimmer auf und wollte vom Vater wissen:
„Was ist denn hier los bei uns?“